Karsta Synnatzschke
Der "Gasthof zur Eisenbahn" entsteht 1898. [1] Errichtet wird er von dem Sandersdorfer Baumeister Gustav Voigt. Dessen Wohnhaus im Jugendstil befindet sich schräg gegenüber [heute Haus Nr.11] Zwischen den ausreichend voneinander entfernt liegenden Gebäuden fließt der Bach Brödel.
1897 war die Nebenbahnstrecke Bitterfeld-Zörbig eröffnet worden. [2] Sandersdorf hat eine Haltestelle mit Stationsgebäude, das sich auch in Sichtweite des Gasthofes befindet. Gleichzeitig mit der Bahnlinie war es von G. Voigt fertiggestellt worden. [1]
Der Gasthof ist mit den weltbekannten, gelben Greppiner Klinkern verblendet, deren Herstellung einige Jahrzehnte lang durch die in einem nahen Tagebau gewonnenen Materialien möglich war. Auch die Terrakotten mit Eichenblättern, die Eingang und Fenster schmücken, sind der AG Greppiner Werke zuzuordnen. | |
Bild 1. Terrakotte |
(Der "Gasthof zur Eisenbahn" ist nicht zu verwechseln mit der kleinen Gaststätte zum Bahnhof, die sich wesentlich später im Bahnhofsgebäude etabliert und nur bis in die 1940er Jahre bestand hat.) Eigentümer des schönen Gasthofes sind die Gründer der Bitterfelder Brauerei, Brömme. Ab 1911 ist als Eigentümer in den Archiv-Akten eingetragen: Friedrich Brömme, Dipl.-Ing. in Bitterfeld. [3]
Der erste Gastwirt ist Robert Fleischer. Im Bitterfelder Kreisblatt Nr. 246 vom 20. Oktober 1900 zeigt er die "Kirmessfeier" an. [4]
Bild 2. Werbeanzeige |
Ausgeschenkt wird Brömmes Bier.
Bild 3. Werbung in einem Adressbuch |
Die Ortslage um den Gasthof wird im folgenden Jahrzehnt weiter bebaut. Es entsteht eine Straßenzeile mit Wohn- und Geschäftshäusern sowie Handwerksfirmen, die als Bahnhofstraße den Anschluß zur Dorfmitte bildet. [1][3] Eines der Häuser ist älter. Es ist das kleinere, 1882 erbaute Haus von Schuhmachermeister Gottlob Pannier (heute Nr. 16) [5]
Bild 4. Bahnhofstraße um 1910. Am Ende rechts der Gasthof. |
Bild 5. Geschäftsübergabe Ende 1910 |
Gastwirt ab 1911 ist Hermann Schöne.
Im Jahr 1913 entsteht auf dem Grundstück ein Kegelhaus mit Kegelbahn, wie derzeit in vielen Gasthöfen. [3]
Ab 1921 führen Fleischermeister Walter Steuer und seine Ehefrau Ida geb. Ebert den Gasthof und ab 1929 übernimmt ihn Familie Berger (Berger später Pfingstanger). [3] Im Adressbuch von 1937 ist der Eintrag zu finden: Berger, Ernst, Gastwirt, Bahnhoftrasse 26.
Bild 6. Herrenrunde vor dem Gasthof; zweiter von links (mit Brille) Dr. med.prakt. Arzt Willy Einecke |
Bild 7. Umzug 1937 |
In den 1940er Jahren kaufen Anton und Lina Pfuff, zuvor bekannt geworden durch die Bewirtschaftung der Schänke Vergißmeinnicht (Kantine der Louisengrube), den "Gasthof zur Eisenbahn" von Ernst Berger. [6]
Bild 8. Teil der Bahnhofstraße aus der Sicht vom Luftschutzbunker. Gasthof links. |
Während des Krieges befindet sich im Saal des Gasthof eine Unterkunft für Luftschutzhelfer. Zu den Luftschutzhelfern gehören Mitarbeiter von Handwerksfirmen. Als es am 16. April 1945 zum Luftangriff in der Umgebung kommt, fliegen auch über Sandersdorf die Bomber. U.a. werden in der Bahnhofstraße mehrere Häuser beschädigt. Am Gasthof brennt das Dach des Saales ab, während sich die Luftschutzhelfer im nahe gelegenen Luftschutzbunker befinden. Das Dach wird wieder hergestellt. [5]
Bild 9. Veränderde Fassade des Hauses von G. Voigt (Ursache: Bombenangriff 1945). Rechts der Gasthof. |
Nach dem II. Weltkrieg richtet Walter Aßmus 1946 auf einem Teil des Grundstückes eine Werkstatt ein, in der Kunststoff verarbeitet wird. Speziell ist es Igelit (Weich-PVC), das in dem nahen Chemiewerk hergestellt wird und derzeit als Ersatzstoff für verschiedene andere Materialien dient. Einige Jahre werden hier Taschen, Körbe u.a. gefertigt. [7]
Bild 10. Heimatfest 1957. Festwagen vor dem Gasthof. |
Anfang der 1960er Jahre stirbt Anton Pfuff. Ehefrau Lina Pfuff führt den Gasthof nicht weiter und kann ihn auch nicht verpachten, da alle Miterben in Westdeutschland (Bundesrepublik Deutschland) leben und eine Vollmacht dazu nicht erteilen. Indem "die Gaststätte für Sandersdorf dringend benötigt wird", ( wegen wachsender Bevölkerung durch die Neubauten, vorwiegend für Angehörige der umliegenden Werke), sieht sich 1964 der Rat der Gemeinde gezwungen, einen Pächter zu suchen und einen Vertrag aufzusetzen. Da der Vertrag von keiner Seite unterschrieben wird, bleibt vorläufig ein vertragloser Zustand bestehen. Der ausgewählte Pächter ist Erhard Tuschy mit Frau Eleonore, die beide bis dahin in Thüringen als "Objektleiterehepaar" (Ausdruck während der DDR) eine gastronomische Einrichtung führten. [10]
Zu dieser Zeit gehören zur Gaststätte folgende Nutzflächen und Ausstattungen: 1 Gaststube 63,5 qm; 1 Wirtschaftsküche 25 qm; 1 Schälküche und Lagerraum 15,6 qm; 1 Veranda 5,2 qm; 1 Hausflur; 3 Toiletten; 1 Kühlapparateraum; 1 Kohlenkeller; 1 Bierkeller; 1 Tanzdiele 85,7 qm. 1 Bufett ohne Schanksäule; 1 Eckschrank; 2 runde Tische; 7 rechteckige Tische; 41 braune Stühle; 2 weiße Stühle; 3 runde Garderobenständer; 1 Wandgarderobe; 9 Lampen; 1 Pendeluhr; 1 Kukucksuhr; 2 Feuerhaken. [10]
Das Gasthaus ist zur HO-Gaststätte (Handels-Organisation-Gaststätten) geworden. In den 1980er Jahren gibt es noch eine, in der BRD lebende, Eigentümerin. Wie in derartigen Fällen in der DDR üblich, ist ein Verwalter mit Befugnissen für das Grundstück eingesetzt. Wieder wechseln die Inhaber. Es sind ab 1980 Georg und Gisela Neumann. [10]
Glasbläser Roger Schräpler hat eine kleine Glasbläserei in einem Nebengebäude des Grundstückes.[7] Sie besteht dort weit mehr als ein Jahrzehnt.
Nach der politischen Wende kommt Anastassios Kostanopoulos mit seiner Familie aus den "alten Bundesländern" nach Sandersdorf und pachtet im September 1993 den "Gasthof zur Eisenbahn". Seine und der Familie Heimat ist Griechenland, der Ort Ichalia bei Trikala. Im Dezember 1993 eröffnet im "Gasthof zur Eisenbahn" das griechische Restaurant "Hermes". [8]
Bild 11. Restaurant-Beleg |
Das Restaurant und seine Inhaber beleben das nun bald hundertjährige Haus auf besondere Weise. Sie knüpfen damit an den Glanz der frühen Jahrzehnte an. Die griechische Kultur und die Gastfreundlichkeit werden in der Zeit, in der sich die ehemalige DDR weiteren Ländern Europas öffnen darf, im Ort herzlich aufgenommen. Das Ansehen des Gasthofes ist bald weit über Sandersdorf hinaus bekannt.
Bild 12. Der Gasthof im Jahr 2004 |
Bild 13. Tischkultur - Aufdruck auf den Servietten | |
Der"Gasthof zu Eisenbahn" wird 1994 als "auffallender und wohlgestalteter Eckbau einer Straßenzeile" als Denkmal aufgenommen. [9]
Bild 14. Verhüllung 2013 (Arbeiten an der Fassade) |
Bild 15. Nach den Außenarbeiten 2013 |
Bild 16. Eingang zum Garten | |
Am 9. Dezember 2013 besteht das "Restaurant Hermes" 20 Jahre.
Letzte Änderung: 09. Dezember 2013
[1] | Stadtarchiv Sandersdorf-Brehna: Bauverzeichnis |
[2] | www.saftbahn.de |
[3] | Stadtarchiv Sandersdorf-Brehna: Gebäudesteuerrolle 1911 |
[4] | Bitterfelder Kreisblatt Nr. 246, 20.10.1900, Kreismuseum Bitterfeld |
[5] | Ilse Pannier, Sandersdorf |
[6] | Peter Funke u. weitere Erlebnisberichte |
[7] | Richard Leiter, Sandersdorf, Nachlass |
[8] | A. Kostanopoulos, Restaurant Hermes |
[9] | Landesamt für Denkmalpflege S-A |
[10] | Stadtarchiv Sandersdorf-Brehna: Akte Bahnhofstraße |
Bildnachweis | |
1,12: Klaus Peter Synnatzschke | |
14,15,16: Karsta Synnatzschke | |
11,13: Hermes Restaurant | |
2: Bitterfelder Kreisblatt Nr. 246, 1900 | |
3: Bitterfelder Adressbuch 1925 | |
4: Ansichtskarte | |
5: Bitterfelder Kreisblatt 1911 | |
6,10: Fotokopie bei Gerda Volk, Sandersdorf | |
7,8: Fotokopie Gustav Pufahl, Sandersdorf, Nachlass | |
9: Fotokopie bei Hannelore Bobe, ehemals Sandersdorf |