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Historisches aus der Gemeinde Sandersdorf

Hauptstraße 11

Klaus Peter Synnatzschke

Was haben der "Gasthof zum Kronprinz" und die neu entstandene Sozialstation der Diakonie gemeinsam? Beide nutzen um ein Jahrhundert zeitversetzt den gleichen Grund und Boden in der Hauptstraße 11 in Sandersdorf.

In den Jahren 1893 - 1895 wird die Hauptstraße erbaut. Vorher waren hier Gärten und Acker. [1, S.43]    1898 werden hier das Gasthaus und die Stallgebäude errichtet (Bauherr: Gustav Voigt, Bauunternehmer). Das Gasthaus, das den Namen "Gasthof zum Kronprinz" erhält, wird von Robert Voigt betrieben. 1903 erhält der Gasthof einen Anbau und im Jahr 1905 einen Tanzsaal (Bild 1). Ab 1903 wird Robert Voigt auch als Gasthofbesitzer genannt. [2]

¨Gasthof zum Kronprinz¨ um 1905
Bild 1. "Gasthof zum Kronprinz" um 1905 [3]

Warum dem Gasthof der Name Kronprinz gegeben wurde, kann nur noch aus der um 1900 in der Gesellschaft etablierten geistigen Richtung gedeutet werden.

Die beschleunigt fortschreitende Industrialisierung und die Entwicklung der Wissenschaften führen zu grundlegenden Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Zur selben Zeit bleibt die alte Klassenstruktur des wilhelminischen Deutschland erhalten und die Begeisterung für alles Militärische und der Drang nach Weltgeltung durchdringen alle gesellschaftlichen Bereiche. [4, S.684]    Kronprinz Wilhelm von Preußen (*06.05.1882 † 20.07.1951), der älteste Sohn von Kaiser Wilhelm II. und Kaiserin Auguste Victoria, erblicher Thronfolger im Deutschen Reich bis 1918, wird nach kurzer militärischer Ausbildung ab 1899 am 30. Mai 1900 Zugführer und bereits am 1. September zum Oberleutnant befördert. Nach dem Studium des Staats- und Verwaltungsrechts in Bonn (1901-1903) erhält er das Kommando der Zweiten Kompanie des ersten Garde-Regiments in Potsdam. [5]

Der eigenwillig regierende Kaiser Wilhelm II. (*27.01.1859 † 04.06.1941) entzieht sich jeder parlamentarischen Kontrolle [4, S.690]. Aus Anlass des 100. Geburtstages seines Großvaters 1897 ordnet er einen regelrechten Wilhelm-I.-Kult an. Die Heroisierung Wilhelm I. (*22.03.1797 † 09.03.1888), der jetzt offiziell als "Wilhelm der Große" und "Heldenkaiser" tituliert wird, tritt in eine neue Phase. Wilhelm II. will damit der ihm unbequemen Verherrlichung von Bismarck entgegentreten, den monarchistischen Geist des Volkes angesichts des schnell zunehmenden sozialdemokratischen Einflusses stärken und durch aufdringliche Betonung der Verdienste des Geschlechts der Hohenzollern Kritik an seinem Regiment unterdrücken. [6, S.276]

¨Gasthof zum Kronprinz¨ um 1911
Bild 2. "Gasthof zum Kronprinz" um 1911 [7]

In den Jahren des 1.Weltkrieges (1914-1918) werden im "Gasthof zum Kronprinz" im Saal Kriegsgefangene untergebracht, die in den umliegenden Gruben arbeiten [1, S.42].

Für die sich ständig vergrößernde Arbeiterschaft in den Gruben und chemischen Werken wird auch in Sandersdorf der Wohnraum knapp. 1921 erwerben die I.G. Farbenindustrie vom derzeitigen Besitzer W. Thielecke den Gasthof zum "Goldenen Löwen" (früher "Gasthof zum Kronprinz") und bauen diesen zu Wohnungen um [1, S.59].

Hermann Fahlke (*27.02.1889 † 07.07.1932), Vorsitzender der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und Abgeordneter im Gemeinderat, bezieht in diesem Haus eine Wohnung [8]. Im Jahr der Massenarbeitslosigkeit 1932 wird ab dem 1. Juli im Rahmen der "Brüningschen Notverordnungen" der Unterstützungssatz für ortsfremde Ledige dem Satz aller ledigen Erwerbslosen gleichgestellt, d. h. von 12 Rm auf 9 Rm je Woche gekürzt. Diese Änderung wirkt sich bei der Auszahlung im Gemeindeamt am 07.07.1932 erstmalig aus. Unzufriedene Erwerbslose ziehen protestierend vor das Gemeindeamt. Bei den sich anschließenden Protestunruhen wird Hermann Fahlke von einer Kugel tödlich getroffen. [9]

¨Hermann-Fahlke-Haus¨ um 1981
Bild 3. Das "Hermann-Fahlke-Haus" um 1981 [12]

Eine nach 1945 am Wohnhaus, das auch "Hermann-Fahlke-Haus" genannt wird, angebrachte Gedenktafel erinnert an dieses Ereignis, bis das leer stehende baufällige Haus 2001 abgerissen wird.

Am 01.07.2001 erfolgt auf dem vorbereiteten Baugelände in der Hauptstraße 11 die feierliche Grundsteinlegung für eine neue moderne Diakonie-Sozialstation. Zu diesem Zeitpunkt blickt die Diakonie auf 10 Jahre anerkanntes Wirken in der Gemeinde Sandersdorf zurück. Unmittelbar nach der Grundsteinlegung begeben sich die Teilnehmer in die evangelische Kirche zum Gottesdienst und anschließendem Sommerfest auf den Pfarrhof. [10, 02.07.2001]

Am 28.09.2001 schwebt der Richtkranz über den Dachsparren des neuen Hauses.
Im Erdgeschoss bekommt die Sozialstation ihr neues Domizil. In der ersten Etage und im Dachgeschoss des neuen Gebäudes entstehen je vier alten- und behindertengerechte Wohnungen. [10, 29.09.2001]    Die Finanzierung ist gesichert [13].

Die Diakonie Sozialstation wird in der evangelischen Kirche am 14.06.2002 mit einem Festgottesdienst feierlich ihrer Bestimmung zugeführt. Das in der Kirche geweihte Kreuz vorantragend, führt Bernd Rothe, pädagogischer Vorstand des Diakonievereins Bitterfeld-Wolfen-Gräfenhainichen, die zahlreich versammelte Festgemeinde in das neue Haus. [10, 15.06.2002]

¨Diakonie Sozialstation¨ im Jahr 2002
Bild 4. "Diakonie Sozialstation" im Jahr 2002 [11]

Landrat Uwe Schulze (CDU) und Bürgermeister Wolfgang Thiel (CDU) überbringen ihre Wünsche den Mitarbeitern der Sozialstation. Rosel Pelka, Leiterin der Sozialstation, die seit dem 1. Juli 1991 alle Höhen und Tiefen miterlebt hat, ist nun erleichtert und blickt zugleich hoffnungsvoll in die Zukunft. Einschließlich ABM-Beschäftigte, Zivildienstleistende und Pflegedienst wirken in der Sozialstation gegenwärtig 26 Mitarbeiter. Sie betreuen neben Bürgern in Sandersdorf auch jene in den Gemeinden Ramsin, Renneritz, Thalheim, Wolfen-Reuden und Zscherndorf. Von der häuslichen Krankenpflege über hauswirtschaftliche Dienste bis hin zu Mittagessen und der Hilfe bei alltäglichen Besorgungen leistet diese Sozialstation vielfältige Dienste für ältere, kranke und behinderte Bürger im Alltag. [10, 15.06.2002]

Quellenverzeichnis:

[1] Krug, Gustav: Chronik von Sandersdorf (Kr. Bitterfeld), Druck von Wilhelm Lauffs, Holzweissig-Bitterfeld, 1929
[2] Auflistung von Bauvorhaben 1892-1934, Archiv der Gemeinde Sandersdorf, Akte 650
[3] Postkarte vom Verlag C.A. Kaemmerer & Co., Halle a/S., im Besitz des Autors
[4] Chronik der Deutschen, Chronik Verlag im Bertelsmann-Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1996
[5] www.dhm.de/lemo/html/biografien/PreußenWilhelm/-
[6] K.-H. Börner: Wilhelm I., Deutscher Kaiser und König von Preußen.
Akademie-Verlag Berlin 1984
[7] Fotokopie, Fotograf unbekannt, im Besitz des Autors
[8] J. Busse: Beitrag zur Entwicklung der Arbeiterbewegung ... . Bitterfelder Kulturkalender, Ausgabe Juli 1959
[9] Die Sandersdorfer Ausschreitungen durch ortsfremde Hetzer geschürt.
Die blutige "Kraftprobe" - Massenverhaftungen. Mitteldeutsche Nationalzeitung, Nr. 158 vom 08.07.1932, S. 5
[10] Mitteldeutsche Zeitung - Bitterfelder Zeitung.
[11] Foto und Bildbearbeitung: K.P. Synnatzschke, Sandersdorf
[12] Foto: Richard Leiter, Sandersdorf
[13] DIAKONIE Soziale Dienste GmbH, Wolfen
Email vom 25.Juni 2002 07:36
Rothe
päd. Geschäftsführer

Glossar

Diakonie

Unter Diakonie wird allgemein ein freiwilliger oder berufsmäßiger christlicher Gemeindedienst verstanden.
Die Diakonie der evangelischen Kirche engagiert sich auf den Gebieten der Alten-, Behinderten-, Familien-, Jugend- und Suchtkrankenhilfe, Gesundheit (Krankenhäuser), Hospizarbeit, Krankenpflege (Diakonie-/Sozialstationen), Migration, Telefonseelsorge u. a..
Weitere Informationen unter www.diakonie.de

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Finanzierung [12]

Die Baukosten betragen insgesamt rund 920 000 EUR.
Sozialstation 272 000 EUR – gefördert mit 81 500 EUR durch Spielshow "Glücksspirale
" Altengerechtes Wohnen 635 000 EUR – gefördert durch:
205 000 EUR Deutsches Hilfswerk (ARD-Fernsehlotterie)
  58 000 EUR Landkreis Bitterfeld
    6 600 EUR Gemeinde Sandersdorf mit Grundstück
Ausstattung 50 000 EUR mit 38500 EUR gefördert durch Spielshow "Glücksspirale"
Die Gesamtkosten abzüglich der Fördersummen ergeben die Eigenanteile.

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Gedenktafel

"In diesem Haus wohnte Hermann Fahlke
ein Kämpfer für Frieden, Freiheit und Sozialismus.
Er wurde am 7.7.32 erschossen."

Mit "Kämpfer" werden im Sinne einer der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED, 1946-1989) konformen Geschichtsauffassung hervorragende Personen der kommunistischen Arbeiterbewegung tituliert. Propagandistisch angelegte Schlagworte wie "für Frieden, Freiheit und Sozialismus" sollen dem Leser suggeriert werden.

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Grundsteinlegung

Die anlässlich der Grundsteinlegung für die neue Diakonie-Sozialstation am 01.07.2001 im Mauerwerk versenkte Röhre enthält eine Hand voll Münzen, Baupläne der neuen Diakonie-Sozialstation, eine aktuelle Tageszeitung, Sandersdorfer Ansichten und ein Programmheft zum 10. Diakoniegeburtstag.

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Letzte Änderung: 25. Februar 2006

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