In Sagen werden unwahre, fantastische Begebenheiten erzählt, die aber einen gesellschaftlichen oder historischen Bezug haben. Überliefert werden Sagen, indem eine Generation sie der folgenden "weitergesagt", dabei mehr oder weniger ausschmückt und wandelt. Die Urheber bleiben unbekannt. Namentlich bemühen sich immer wieder Personen, die Sagen aufzuschreiben.
Die folgenden Sagen hat Hans Bierfreund, Lehrer von 1932 – 1957 an der Schule in Sandersdorf, aufgeschrieben. Er war Rektor der ev. Schule und von 1940 – 1945 Rektor der Mädchenschule. Er gehört zu der Gruppe, die am 06.06.1946 die Ortsgruppe Sandersdorf des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gründet. Ab 1949 wird er wiederholt als Schriftführer in den Vorstand gewählt. Die Chronik des Kulturbundes der Ortsgruppe Sandersdorf wird von Hans Bierfreund für den Zeitraum 1946 – 1959 zusammengestellt [1]. Im Alter von 72 Jahren scheidet er 1957 aus dem Schuldienst.
Das vermutlich im 12. Jahrhundert zeitgleiche Errichten der romanischen Dorfkirchen in Sandersdorf und Thalheim, mit den gleichen baulichen Gliederungen in Querturm und Kirchenschiff gleicher Breite, Altarraum und Apsis, bildet den geschichtlichen Bezug für die Sage vom Lindenstein. Das vorgebliche Beweisstück eines Streits der beiden Bauleute, ein Findling, befindet sich auf dem Dorfplatz gegenüber der ehemaligen Schule.
Auf dem Dorfplatze zu Sandersdorf liegt ein großer Stein, ein Findling, den die Eismassen der Eiszeit aus seiner nordischen Heimat hierher verschleppt haben. Er wird der "Lindenstein" genannt. Die Sage hat sich seiner bemächtigt und erzählt von ihm Folgendes:
Vor fast tausend Jahren, nachdem sich das Christentum auch in hiesiger Gegend ausgebreitet hatte, sollten die beiden Orte Sandersdorf und Thalheim Kirchen bekommen. Die Einwohner fuhren dazu Steine aus den Steinbrüchen des Petersberges herbei und sammelten die in reicher Zahl umherliegenden großen und kleinen Findlinge.
Sie hatten Glück, am Orte lebte Wolfram, ein Baumeister, weit in der Umgegend berühmt durch seine Tüchtigkeit, aber auch gefürchtet wegen seiner Heftigkeit und seines Jähzorns, der ihn oft in unglaubliche Wutausbrüche versetzte. Ihm wurde der Auftrag, die beiden Kirchen mit weit hinragenden, festen Türmen zu errichten.
Wolfram hatte einen Gehilfen, einen frischen, allzeit frohen Burschen, der seinem Meister an Tüchtigkeit nicht nachstand. Es war verwunderlich, woher er bei seiner Jugend diese Fertigkeit in den Gesetzen der Baukunst hatte. Der Meister übertrug ihm den Bau der Sandersdorfer Kirche, während er selbst die Kirche und den Turm in Thalheim bauen wollte. Er hatte den Ehrgeiz, den Gehilfen in der Schönheit des Gebäudes und in der Schnelligkeit bedeutend zu übertreffen.
Eines Tages, als erst die Grundmauern gelegt waren, wettete er mit ihm um eine wahnsinnig hohe Summe, die der erhalten sollte, der seine Aufgabe zuerst gelöst hätte. Dem Gehilfen glückte alles über die Maßen, seine Leute arbeiteten mit solchem Eifer, dass, ehe der Winter hereinbrach, Kirche und Turm im Rohbau fertiggestellt waren.
Voller Freude eilte er nach Thalheim, seinem Meister die frohe Kunde zu bringen. Er führte ihn auf eine Anhöhe und zeigte ihm sein vollendetes Werk. Da packte den Meister eine grimmige Wut. Er fluchte — und seiner Sinne und seines Willens nicht mehr mächtig, rief er die Hilfe des Teufels an.
Da hörte man plötzlich ein unheimliches Gelächter in den Lüften, das die beiden Bauleute mit Grausen erfüllte, denn es war niemand zu sehen. Der Meister ergriff in seiner Wut einen riesenhaften Stein, den nie und nimmer ein Mensch aus eigener Kraft hätte bewegen können, und warf ihn mit übermenschlicher Stärke in hohem Bogen in Richtung auf die Sandersdorfer Kirche, die er damit zertrümmern wollte. Man konnte den Stein in der Luft fliegen sehen, und der Gehilfe nahm mit Entsetzen wahr, wie das Wurfgeschoss genau auf sein wohlgelungenes Werk zuflog.
Da — wenige Meter vor dem Turme — drehte der Stein in den Lüften plötzlich ab und schlug mit donnerähnlichem Krachen auf dem freien Platze neben der Kirche in die Erde. Der Meister aber stürzte zu Boden und bat Gott mit Tränen um Verzeihung für seine frevelhafte Tat. Fortan wurde er ein friedlicher und gar frommer Mann.
Der Lindenstein aber liegt noch heute an dieser Stelle auf dem Dorfplatz. Jahrhundertelang wurde er von mächtigen, breitästigen Linden beschattet und diente als "Zehntstein" *). Er erfreute sich infolgedessen keiner großen Beliebtheit bei Sandersdorfs Bauern und Handwerkern. Heute breitet eine Eiche ihre Zweige über ihm aus. [2, S. 138 – 139]
*) Zehnt: mittelalterliche Naturalsteuer, die von der Kirche und von weltlichen Feudalherren in Höhe des zehnten Teiles der landwirtschaftlichen Erträge und der handwerklichen Erzeugnisse erhoben wurde. Am Zehntstein mussten diese Abgaben entrichtet werden.
Museumsleiter Bellmann aus Bitterfeld hält am 15.09.1955 einen Farbbildervortrag mit dem Titel "Schöne Heimat". Seine Heidewanderung führt nach Schloss Mosigkau, Wörlitz, Schmiedeberg, Oppin, Düben und andere Orte der Dübener Heide. In der Pause liest er die "Sandersdorfer Koboldsagen" vor, die seinerzeit in der Sagensammlung "Die Heimat hat es mir erzählt" [3] erschienen. Da diese Sagensammlung nicht wieder gedruckt wird, trägt Hans Bierfreund die "Sandersdorfer Koboldsagen" in die Chronik [1, S. 25 – 28] ein, um sie der Vergessenheit zu entreißen.
Das wusste jeder: Mit der Witwe Barthmußen war das nicht ganz geheuer! Sie war alt, uralt und völlig zusammengehutzelt. Der Kopf wackelte ihr immer, wenn sie durchs Dorf humpelte. Sie hatte keinen Zahn mehr im Munde, und das Gesicht war voller Falten. Aber was wusste sie nicht alles! Von Krieg und Raub, vom schandbarsten aber auch vom lustigsten Soldatenleben. In ihrer Jugend war sie als Marketenderin die schönste und begehrteste Dirne im Soldatenlager gewesen. Aber merkwürdig: Ihre Haare waren noch kohlschwarz und lang und schwer, wie früher, und ihre Augen funkelten wie in der Jugendzeit. Und erzählen konnte sie, dass die Frauen noch lange rot waren und kicherten. Sie wusste es vorher, wenn der rote Hahn krähte, und sie hatte es vorher gewusst, wenn Hungersnot und Seuchen kamen. Wenn sie in ein Bauernhaus trat, dann zerrten die Kühe wie wild an ihren Ketten, und der sonst so bissige Hofhund verkroch sich winselnd in seine Hütte. Ja, man munkelte allerlei, und noch lange tuschelten die Weiber, wenn sie vorbeigegangen war. Eines Tages sagte sie zu ihrer Nachbarin, der jungen Steinbäuerin: "Sieh' mir doch mal in den Halsausschnitt meines Kleides, da muss etwas sein!"
Als die Steinbäuerin den Halsausschnitt ein wenig öffnete, erschrak sie aufs heftigste, denn ein unheimliches Tier mit glühenden, feuerroten Augen, die zornig funkelten, saß plötzlich auf der Schulter der Hexe. Es hatte lange, spitze Krallen an den Füßen und zischte und fauchte. Plötzlich sprang es herab und verschwand mit langen Sätzen im Hause der Steinbäuerin. Die Männer waren auf dem Acker, und als die junge Frau nach langem Warten, immer noch am ganzen Leibe zitternd, ihre Küche betrat, da fingen auf einmal alle Schüsseln, Teller und Tassen von allein an zu klappern. Bald wurde es bekannt: Im Steinbauernhaus ist ein böser Kobold! — Und was für ein böser Kobold war das! Wie schnell hat er die wohlhabende Familie an den Bettelstab gebracht!
Der schönste Weizen und Hafer gehörte dem Steinbauern, fast fünfzig Morgen in einem Plan nach Zscherndorf zu. Da schlug der Hagel anfangs Juli hinein, wenige Tage vor der Ernte, dass das schöne Getreide, das vorher wie eine Wand stand, wie in den Erdboden hineingedroschen war. Auch nicht eine Ähre stand mehr! Und gegen die Nachbaräcker hatte das Unwetter wie mit dem Messer abgeschnitten.
Den Großvater, der im Ausgedinge wohnte, packte die Wut, wie unsinnig rannte er umher und trieb sich in den Schänken herum und trank sündhaft Schnaps. Als der Roggen eingefahren wurde, stach ihn die Sonne, dass er von der hohen Fuhre fiel und sterbend heimgeschafft wurde. Und als zudem noch der Würgeengel durchs Dorf schritt, da verweilte er bei keinem so lange wie auf dem Steinbauernhofe.
Fünf kleine Kindersärge schaffte man in einer Woche auf den Friedhof, und er hatte selbst den zwölfjährigen pausbackigen Martin nicht verschont! Nun war's still auf dem Bauernhofe. Und was hatte der Kobold aus der Bäuerin gemacht! Das sollte die Steinbäuerin sein? Die allezeit Lustige, die immer singend hantierte und so gern mit dem Melkeimer klapperte! Sie schlich wie eine alte Frau durch den Hof. Und sie war doch herzensgut, es half auch nichts, dass sie dem Kobold täglich das beste Essen auf den Oberboden stellte.
Der Kobold schien immer grimmiger zu werden. Kaum war die Ernte geborgen, da erscholl mitten in der Nacht Feuerlärm und schreckte alle aus den Kammern. Beim Steinbauern brannten die Scheune und der Kuhstall. Keiner weiß, wie das Feuer entstanden war. Sechzehn Kühe verbrannten mit und mehr als hundert Schafe. Sie rannten immer wieder ins Feuer hinein! Von der gefüllten Scheune standen am Tage nur noch verkohlte und angeschwärzte Grundmauern. Und das Schlimmste erst kommt noch: Die Bäuerin musste sich legen und gab vorzeitig einem Knaben das Leben. Sie stand nimmer wieder auf, nicht acht Tage, da trug man sie auf den Gottesacker neben der Kirche, und der Knabe lebte, aber von Gott gezeichnet! Sechs Zehen an jedem Fuße, sprechen hat er überhaupt nicht gelernt und er lachte immer so blöde, bis er als 12jähriger in die Gosse fiel und elendiglich ertrank. Der Bauer verließ das unheimliche Anwesen und siedelte sich im nahen Thalheim an. [1, S. 25 – 28]
Da wars freilich beim Bauern Winkelberger, in der schmalen Gasse nach Ramsin zu, anders. Die hatten den guten Kobold. Wir wissen auch, wie er den bekommen hat. Sie waren die gehässigsten Leute im Dorfe und hatten kein bisschen Mitleid mit der unglücklichen Steinbauernfamilie. Was haben sie mit den Fingern auf die unglückliche Frau gezeigt und garstige Reden geführt, wenn sie vorüberging. Das sollte Gottes Strafe und Himmelsfluch sein! Da hat sich die junge Steinbäuerin einmal so verjagt, dass sie vor ihrer Tür stehen bleiben musste und sich an dem Pfeiler anhielt, weil ihr das Herz zum Halse heraus wollte. Die alte Winkelbergerin hat dem Teufel ihre Seele mit Blut verschrieben, dass er den guten Kobold in ihr Haus schicke!
Vier junge Mädchen wissens ganz genau. Sie standen an einem Septemberabend, zwischen der Getreide– und Kartoffelernte, in der schmalen Gasse, gerade dem Winkelbergerschen Hause gegenüber. Da hörten sie plötzlich ein Geräusch, wie wenn ein großer Vogelschwarm vorüberschwirrte. Aber sie sahen keinen Vogel. Da senkte sich plötzlich ein großer Feuerball, so groß wie ein Kuchenblech, auf die Scheune des Bauern nieder. Zuerst stockte ihnen der Atem, und sie wagten nicht hineinzugehen, aber dann pochten sie an die Fensterläden und riefen: "Winkelbergers, eure Scheune brennt! Macht auf!" Hinter den Läden brannte Licht, aber Winkelbergers hörten lange nicht. Endlich schlurfte der Winkelberger aus dem Hoftor und fragte, was sei. Als die Mädchen ihm sagten, was sie gesehen hatten, da lachte er bloß und glaubte es nicht. Sie gingen nach der Scheune, aber die lag friedlich da, es brannte nicht und roch auch nicht nach Rauch und Feuer, und der Winkelberger wollte gar nichts bemerkt haben. Aber die vier Mädchen wussten es. Ein Kobold war es gewesen, den die Winkelbergerin, die immer so absonderlich war, herangelockt hatte.
Wie wäre es sonst möglich, dass die "wilde Jagd", die fast drei Wochen lang im November durch den Stakendorfer Busch, über das Dorf bis zum Fichtenwalde vor Bitterfeld hinbrauste, alle Gehöfte verwüstete, die Dächer abdeckte und die Obstbäume knickte, nur den Winkelberger verschonte! Als die große Feuersbrunst das Dorf wegbrannte, da blieb nur ein Bauernhof unversehrt stehen, der Winkelbergersche! Wem sein Getreide stand am besten? Wer hatte die meisten Kälber und Ferkel? Wer hatte die Taler scheffelweise in der Lade? Der Winkelberger! Ja, es stimmt schon, bei Winkelbergers war der gute Kobold! [1, S. 25 – 28]
Als Bundesfreund Bellmann obige Sagen vorlas, stockte er plötzlich und verlas die Stellen "von Gott gezeichnet" und "das sollte Gottes Strafe und Himmelsfluch sein" nicht mit. (Bemerkung des Autors: Eine Sage muss den Wortlaut erhalten, mit dem sie im Volksmunde seinerzeit umlief). Im weiteren Verlauf seines Vortrages erzählte er, dass er bei der Wanderung durch die Dübener Heide plötzlich von einem heftigen Regen überrascht wurde, aber "Gott sei Dank" schnell Unterschlupf fand. [1, S. 25 – 28]
[1] | Chronik der Ortsgruppe Sandersdorf des Deutschen Kulturbundes 1946 – 1959. |
[2] | Jeßnitzer Kalender 1969/1970 Volksdruckerei "Otto Schmidt", Bitterfeld |
[3] | Brühl, Winkler: Die Heimat hat es mir erzählt. Verlag Paul Streubel, Düben 1937 |
Letzte Änderung: 30. November 2007
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