Horst Barschdorf, Klaus Peter Synnatzschke
Streiks, Demonstrationen und Unruhen brechen in der gesamten DDR und in Ost-Berlin am 17. Juni 1953 aus, an denen sich einige Hunderttausend Arbeiter beteiligen. Charakteristisch für alle Aktionen ist ihre Spontaneität und der Umschlag ökonomischer in politische Forderungen.
Es handelt sich um einen Konflikt zwischen Staat und Gesellschaft, insbesondere zwischen der Arbeiterschaft in den volkseigenen Betrieben und dem Staat als Arbeitgeber. Die – im Vergleich zu den übrigen Arbeitnehmern – privilegierten Beschäftigten der volkseigenen Großbetriebe fordern vom Staat – ihrem Arbeitgeber – versprochene Verbesserungen ihrer sozialen und ökonomischen Lebenssituation nun auch mit Mitteln des Arbeitskampfes ein. Andere ebenfalls unzufriedene Bevölkerungsschichten sehen ein Signal für die Beseitigung des verhassten Regimes. Hierfür versagt ein großer Teil der Arbeiterschaft die Unterstützung und der Aufstand, der von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wird, scheitert. [2]
Organisation und Verlauf des Streiks und Aufstandes im Industrierevier Bitterfeld-Wolfen werden von den Streikkomitees der Betriebe und des Kreises geführt, in denen couragierte Personen wie Paul Othma, Paul Gleim, Hans Bergander, Hermann Stieler, Wilhelm Fiebelkorn, Horst Sowada und viele andere sich für die Forderungen der Arbeiter einsetzen.
Die folgende Niederschrift soll an das Schicksal des damals in Sandersdorf wohnenden Paul Othma erinnern.
"...wenn ich das gewusst hätte, dass der Tag so ausfällt, wäre ich nicht zur Arbeit gefahren, aber man will doch nicht als Arbeitsbummler hingestellt werden, ..."Mit dem Beginn der Frühstückspause
"Wir sind solidarisch mit den Berliner Arbeitern! Wir demonstrieren mit ihnen. Unsere Parole heißt: Wir fordern Freilassung unserer politischen Häftlinge!"Eine Kettenreaktion setzt Tausende Werktätige in Bewegung. Die Protestierenden formieren sich spontan zu einem Demonstrationszug, der von Paul Othma angeführt wird und sich durch das Werk in Richtung Bitterfeld bewegt. [2] [3]
"Umarmungen von Menschen, die nicht erwartet hatten, sich hier zu begegnen: Du auch! Blumen in den Haaren junger Arbeiterinnen, Stullen und Zigaretten wurden verteilt, zwei Bierkanister herangetragen, Flaschen in ausgestreckte Hände geworfen."An einer behelfsmäßigen Tribüne, bestehend aus einem Trecker mit Anhänger, versammeln sich mehrere Streikführer aus den Bitterfelder Betrieben [2]. Nach FREIER [2] lässt sich der genaue Verlauf der Kundgebung nicht mehr rekonstruieren, offenbar hat als erster Redner Paul Othma gesprochen. Er fordert u. a. die Senkung der Normen und eine Preisreduzierung in den Geschäften der Handelsorganisation (HO) um 40 %. Anschließend hält Lehrer Wilhelm Fiebelkorn, der sich dem Demonstrationszug aus dem EKB anschloss, eine leidenschaftliche Rede. In diese Rede bezieht er eine Reihe von Forderungen ein, die von nun an den Kern der Losungen der Streikenden im Kreis Bitterfeld bilden sollten: [2]
"1. Ende der Norm-, Preis- und Steuerschraube! 2. Beseitigung der Schlagbäume an der Zonengrenze und freier Reiseverkehr in beide Teile Deutschlands. 3. Rücktritt der Ulbricht-Regierung! 4. Zulassung der im Westen befindlichen demokratischen Parteien! 5. Wahl einer gesamtdeutschen Regierung auf demokratischer Basis! 6. Wahl einer provisorischen Regierung für die SBZ bis zur Neuwahl! (...) 7. Sofortige Freilassung aller politisch, religiös und aus sogen. wirtschaftlichen Gründen Verfolgten. 8. Meinungs- und Pressefreiheit. 9. Auflösung der SED und Auflösung der Volksarmee. 10. Fortführung des Generalstreiks. Keine Repressalien gegen Streikende. 11. Das Deutschland-Lied ist ab sofort unsere National-Hymne."FIEBELKORN [4] erinnert sich an die Bildung des Streikkomitees:
"Um die Forderungen auch zur Durchführung zu bringen, musste ein Streikkomitee gewählt werden. Ich schlug vor, dass der Führer Paul Othma ins Komitee gewählt werden sollte. Begeistert fand er die Zustimmung aller."18 Personen sind im Streikkomitee.
"Am 17. Juni 1953 war ich in der Apotheke, ich musste meinen Vater vertreten. Und am Mittag musste ich schnell nach Bitterfeld fahren und hatte meinen Wagen dort auf dem Marktplatz abgestellt. Ich habe dort gesehen, dass dort eine große Menschenmenge sich versammelt hatte und dass Herr Othma Worte an die Menschen dort gerichtet hat."
"Es wäre zwecklos, in der alten Form den Kampf weiterzuführen. Es wäre wohl besser, sich zurückzuziehen und die Streikleitung intakt zu erhalten. "Wir kapitulieren nicht", rief Othma.Über die Tätigkeit der Streikleitung
Elf-Punkte-Plan des Kreisstreikkomitees (Quelle: BStU, Ast. Halle)
Im EKB wird"... fuhr nach Wolfen. Hier traf ich Othma wieder. Ich erstattete Bericht. Othma: "Ist das alles? - ja," war meine Antwort. Dann riet ich allen anwesenden Streikführern dringend aufzugeben und sich nach Westberlin abzusetzen. Othma entgegnete: "Unsere Forderung war und ist: Streik! Weiter streiken! Wir bleiben!" ...Paul Othma und Wilhelm Fiebelkorn besprechen sich
Ich fragte "Wie soll es weitergehen?" Othma entgegnete: "Wir streiken in den Betrieben. Hier sind wir in Massen. Die Masse gibt uns Mut!"
"Ich und wir alle haben keine Verbrechen begangen. Wir bleiben und streiken weiter!"Paul Othma, Wilhelm Fiebelkorn, u. a. verlassen
"Nun hab ich gewartet, dass er nach Hause kommt. Und er kam nicht. In der Nacht um so zwölfe, eins klopft es unsrer Tür und da standen zwei Männer und wollten rein."Die Hausdurchsuchung bleibt erfolglos.
"Da hat sich die Anständigkeit von Paul Othma gezeigt. Er hat mich praktisch verleugnet, um mich zu schützen."Wilhelm Fiebelkorn und Horst Sowada erreichen nach mehrtägiger, abenteuerlicher Flucht West-Berlin.
"Um unseren Werktätigen zu erläutern, welchem Gesindel sie auf den Leim gegangen sind,"...
"...gemeinsam mit den Agenten des Monopolkapitals die demokratische Ordnung im Kreise Bitterfeld zerstören und den Faschismus errichten, den Todfeind der Arbeiterklasse."...
In diesem Stil wird auch Paul Othma als Agent des USA-Imperialismus dargestellt. [2]
In einer undatierten Sonderausgabe der Betriebszeitung "Fortschritt" werden der Belegschaft die Hauptschuldigen an den Ereignissen im EKB - Paul Othma, Horst Sowada und Günter Stöckel - präsentiert. Die übrigen Beschäftigten durften sich danach weitgehend als entlastet betrachten. [2] [6] [12]
Paul Othma wird wie die anderen verleumdet und vorverurteilt [6] [12]:
"Unser Werk wollten die Othmar, Sowada und Stöckel den IG-Hyänen und Faschisten in Westdeutschland wieder in die Hände spielen"Vor dem sich andeutenden Prozess präsentiert die Anklagevertretung einzelne Zeugen, die gegen Paul Othma aussagen. Auf der anderen Seite werden durch den Rechtsanwalt Dr. Peuker bei der Staatsanwaltschaft die Erklärungen einzelner Personen und Personengruppen eingereicht, die als Zeugen Paul Othma entlasten können. Diese Zeugen gingen ein persönliches Risiko ein und hatten aufgrund ihrer Aussagen Repressalien zu erwarten.
"Das ist der Faschist Othmar, der als Haupträdelsführer den faschistischen Putsch in unserem Kombinat organisierte, und jetzt seiner gerechten Strafe entgegensieht."
"Das ist der Stöckel aus der Messwerkstatt. Er ist ein aktiver Helfer der Fa. Othmar und Co."
"Die Othmar und Sowada tarnten ihre Verbrechen sehr gut. Damit versuchten sie..."
"daß der Angeklagte sich energisch gegen Ausschreitungen jeder Art und auch gegen die unzulässigen Parolen gewandt hat und überall dort eingriff, wo solche Ausschreitungen im Entstehen waren."17 Personen sagen über Paul Othma aus:[1, S.26]
"Behauptungen, welche besagen, daß der Kollege Paul Othma, wohnhaft in ... während des Demonstrationszuges vom Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld (Bau 209) zum Platz der Jugend in Bitterfeld Personen tätlich angegriffen, Zerstörungen an Transparenten, Schaukästen und Bildern gebilligt oder gar daran beteiligt gewesen sein soll, entsprechen nicht den Tatsachen."Eine Person erklärt, [1, S.23]
"daß durch das ermahnende Verhalten des Angeklagten im Kreispolizeiamt die Demonstrierenden daran gehindert wurden, die Waffenkammer auszuräumen."27 Arbeitskollegen unterzeichnen die folgende Erklärung: [1, S.25]
"Paul Othma war bei uns im Umformerhaus Alu-Werk als Schichtelektriker tätig. Wir Kolleginnen und Kollegen bezeugen durch unsere Unterschrift, daß Othma als ruhiger und gewissenhafter Elektriker seinen verantwortungsvollen Dienst in der Hochspannungs- und Gleichrichteranlage versehen hat. Er hat sich bei uns im Betrieb nicht politisch betätigt und hat auch nicht versucht uns in staatsfeindlicher Weise zu beeinflussen, sodaß wir ihn keinesfalls als Provokateur oder Rowdy bezeichnen können. Am 17. Juni 1953 hat er in unserem Betrieb keinerlei Schaden angerichtet, der Betrieb wurde durchgehend störungsfrei aufrechterhalten.
Wir bitten um Freilassung des Kollegen Othma."
Vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichts Halle werden in erster Instanz 15 Prozesse gegen eine und vier Prozesse gegen mehrere Personen geführt. Von diesen 19 Prozessen werden 13 mit dem erstinstanzlichen Urteil bis zum 25. Juli abgeschlossen. [2]
Eine zweite Welle von insgesamt sechs Prozessen erstreckt sich zwischen dem 13. Oktober und 15. Dezember 1953. Während dieser Zeit werden auch die Verhandlungen gegen die als hauptsächliche Rädelsführer angesehenen Hans Bergander, Paul Gleim, Paul Othma und Hermann Stieler durchgeführt. [2]
"Protokolle schreiben wir wie wir wollen, Sie haben zu unterschreiben und wenn es bis Mittag dauert, wir haben Zeit die ganze Nacht."
"Hatte Verhör bis früh 6 Uhr und geschlagen und bedroht bin ich auch worden.
Von 21.00 Uhr bis 6.00 Uhr durch 6 Mann und eine Frau."
"Othma ist verantwortlich für die Provokationen im EKB Bitterfeld und Gleim für Wolfen. Es hat auch die Verbindung zwischen beiden bestanden. Othma hatte als Angehöriger der Kreisstreikleitung das Heft in der Hand. Er ist systematisch bemüht gewesen, daß alles unzerstört in die Hände der Kriegstreiber hätte übergeben werden können."
Der Staatsanwalt beantragt für Paul Othma gemäß Artikel 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel III A III (siehe Glossar) eine Zuchthausstrafe von 10 Jahren, die Untersuchungshaft nicht anzurechnen und das Vermögen einzuziehen.
Der Verteidiger Dr. Peuker führt u. a. aus, dass sich Othma nicht als Faschist aufgeführt hat. Othma hat sich nicht nur als Arbeiter, sondern auch gesellschaftspolitisch positiv verhalten. In seinen weiteren Ausführungen bezieht sich Dr. Peuker auf die Zeugenaussage eines Bürgermeisters a. D.: [1, S.44]
"... Ich kenne Herrn Othma aus der Zeit, wo ich Kreisvorsitzender und Geschäftsführer der LDPD war. Ich hatte oft Gelegenheit in dieser Eigenschaft mit dem Betreffenden zu reden und zwar in seinem Heimatverein sowie in der Geschäftsstelle und auch oft in meiner Wohnung. Sein Wesen war ehrlich und im Gespräch impulsiv, neigte aber niemals zur Aggression und zur Ablehnung der Parteiinteressen. O. war jeder Zeit bereit, der besseren Einsicht Folge zu leisten. Ich hatte Gelegenheit Othma am 17.6.1953 bei der Demonstration sprechen zu hören und kann nur bestätigen, dass sich an seinem Wesen nichts geändert hatte. Er sprach als Kollege zu seinen Kollegen in der mir bekannten üblichen Weise. Ich glaube, dass ich als mehr als 50jähriges Mitglied dazu in der Lage bin, den Unterschied zwischen einem Agitator, Provokateur oder sogar Aggressor herausstellen zu können. Ein Mann, der derartige Funktionen ausübt, bedient sich gewisser Formen und Redensarten, die seinem eigenen Wissen nicht entsprechen, also suggeriert oder schriftlich ausgehändigt seien. Nichts war am besagten Tage bei Othma zu bemerken, da er in einer kollegialen Art zu seinen Kollegen sprach. In Anbetracht der Masse der Zuhörer vielleicht etwas impulsiver und, da er heiser war, mehr mit den Händen als mit dem Munde. Bei einem Fernstehenden konnte es den Eindruck der Gehässigkeit erwecken, jedoch von keinem etwas zu hören war. O. vertrat nur die Forderungen seiner Auftraggeber (seiner Kollegen). Von Staatsfeindlichkeit konnte ich nichts herausfinden und bestätige dies ohne Voreingenommenheit gegen Othma in objektiver Weise."
Othma hat in entscheidenden Momenten Unbesonnenheiten und Gewalttaten verhütet. Er hat allerdings bei seinem Einfluss, den er ausüben konnte, den Demonstrationszug nicht verhindert. ... Besonders hervorzuheben ist, dass er die Ausplünderung der Waffenkammer verhindert hat. ... Dr. Peuker bittet das Gericht um eine geringere und gerechte Strafe.
Das letzte Wort des Angeklagten Othma:
"Ich war nur von dem Gedanken geleitet, Unmögliches zu verhüten und bitte um ein mildes Urteil. Im übrigen schließe ich mich den Ausführungen meines Verteidigers an."
Der 1. Strafsenat verurteilt dann Paul Othma wegen Verbrechens nach Artikel 6 der Verfassung der DDR in Verbindung mit der Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel III A III (siehe Glossar) zu einer Zuchthausstrafe von 12 Jahren. Ihm werden die Sühnemaßnahmen der Kontrollratsdirektive 38 Abschnitt II Artikel IX, Ziffer 3-9 auferlegt, davon die der Ziffer 7 auf die Dauer von fünf Jahren, außerdem wird ihm das gesamte Vermögen eingezogen. Die Untersuchungshaft wird ihm nicht angerechnet und er hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. [1, S.54-55]
Dieses harte Urteil verändert die Lebensumstände Paul Othmas und seiner Familie erheblich. So stellt die lange Haftzeit insbesondere für seine Vitalität eine markante Zäsur dar, und die auferlegten Sühnemaßnahmen nach der Kontrollratsdirektive 38 bedeuten quasi seinen lebenslangen Ausschluss aus allen gesellschaftlichen Beziehungen. Außerdem ruiniert die Vermögenseinziehung die Lebensgrundlage seiner Familie.
"In der Strafsache gegen Othma aus Sandersdorf steht die Bevölkerung auf dem Standpunkt, dass die Verurteilung zu unrecht erfolgt istDie von der Nationalen Front Sandersdorf einberufene Einwohnerversammlung behandelt am
Der Staatsanwalt, der die Sache bearbeitet hat, soll zur Sache sprechen und zwar Anfang nächster Woche. Nationale Front will eine Versammlung einberufen, wo ein Staatsanwalt über demokratische Gesetzlichkeit und der Staatsanwalt in Sachen Othma sprechen sollen.
Koll. Bauch möchte entscheiden, ob Staatsanwalt teilnehmen soll
(möglichst bald)."
das vom Bezirksgericht Halle gegen Othma gefällte Urteil.
Staatsanwalt und Bezirksrichter, die das Urteil
fällten, geben mit ihren propagandistischen Ausführungen
"den anwesenden Einwohnern über Ursache und Entstehung des Putsches am 17. Juni klar und deutlich zu verstehen, dass der 3. Weltkrieg auf des Messers Schneide stand, und nur durch das Eingreifen der sowjetischen, friedliebenden Besatzungsmacht mit der Volkspolizei und den patriotischen, fortschrittlichen Kräften abgewendet werden konnte."
Othmas Mutter, die mutig ihren Sohn zu verteidigen suchte, wird vom Staatsanwalt schroff gesagt: "Die Verantwortung für die Geschehnisse am 17. Juni fällt auf ihren Sohn zurück." [7]
In der Betriebszeitung "Fortschritt" vom 24.11.1953 werden die Bedenken der Sandersdorfer Bürger an der Rechtmäßigkeit des Urteils mit der Parole ignoriert: "Staatsanwaltschaft und Werktätige einer Meinung, die Werktätigen von Sandersdorf erkennen das Urteil als gerecht an ..." [7]
Die folgenden langen Jahre
bleibt Paul Othma in den Strafvollzugsanstalten Coswig, Waldheim, Torgau und Brandenburg inhaftiert.
Die Gefangenen dürfen in der Regel einmal im Monat einen Brief schreiben, der nur im Ausnahmefall 20 Zeilen überschreiten darf. So ist es u. a. strikt verboten, über den Gefängnisalltag oder die Hafthintergründe zu schreiben. [1, S.84]
Straf- und Vollzugsgefangene dürfen selbst alle 4 Wochen einmal Post empfangen, die in gut lesbarer Schrift gehalten sein muss. Fotos, sonstige Bilder, ... dürfen nicht beigelegt werden. [1, S.84]
Paul Othma versucht mehrfach eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen, um endlich beweisen zu können, dass er nichts Unrechtes getan hat.
Rechtsanwalt Dr. Peuker gelangt im Juni 1954 nach Beratung mit Ehefrau
Hedwig Othma zu der Auffassung, dass ein Kassationsantrag
keine Aussicht auf Erfolg haben würde. Hedwig Othma richtet
für ihren Mann ein Gnadengesuch an den Präsident der DDR.
[1, S.16]
Wilhelm Pieck lehnt am 3.12.1957 das
Gnadengesuch aufgrund "der außerordentlichen
Gefährlichkeit der Strafhandlungen für unsere Arbeiter- und
Bauern-Macht" ab.
Auch das Ersuchen auf
Wiederaufnahme des Verfahrens wird vom Generalstaatsanwalt
der DDR abgelehnt. [1, S.74]
Je länger Paul Othma in der Stille der Haft über das Geschehen am 17. Juni 1953 nachdenkt, festigt sich bei ihm die Erkenntnis, dass im Gerichtsverfahren gegen ihn das Gesetz sowohl formell als auch sachlich erheblich verletzt worden ist. [1, S.75] Ihm gegenüber steht eine selbstsichere Justiz, die sich ihrer Urteile gerecht und sicher wähnt und vom Verurteilten nur Reue und Schuldbekenntnis im Sinne der Anklage erwartet.
Sicher hat er sich dann aus lauter Verzweiflung unbedacht zu Äußerungen hinreißen lassen, die mit Schreib- und Besuchsverbot bestraft wurden. [1, S.7] Paul Othma fordert von seiner Ehefrau, die höheren Instanzen immer wieder anzuschreiben,
"man muß doch mal zu seinem Recht kommen, denn die Verfassung gibt jedem Bürger das Recht, sich zu verteidigen." [1, S.101]
Selbst nach 10 Jahren Haft, im Sept. 1963, sieht die Staatsanwaltschaft keine Veranlassung für Paul Othma die Strafe bedingt auszusetzen, solange er nicht seine Auffassung aufgibt, er sei zu unrecht verurteilt. [1, S.80]
Vom Staatsrat der DDR wird im Juni 1964 ein erneutes Gesuch seiner Ehefrau Hedwig Othma auf Gewährung bedingter Strafaussetzung abgelehnt. [1, S.81] [12]
Für über 11 Jahre Haft einschließlich Arbeit für das Elektroapparatewerk Teltow während der Haftzeit werden ihm bei der Entlassung geringfügige 99,23 DM (Ost) ausgezahlt.
In der nachfolgenden Zeit lässt die Staatssicherheit Paul Othmas Familie überwachen. Zugetragene Informationen eines ehemaligen Gefängnisinsassen, der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises, des Abschnittsbevollmächtigten der Volkspolizei, u. a. werden bei der Staatssicherheit als "operatives Anfangsmaterial" gesammelt. [1, S. 122-131]
Bis 2002 tragen weder eine Straße, ein Platz oder ein öffentliches Gebäude im Landkreis Bitterfeld seinen Namen.
Einstimmig beschließt der Gemeinderat am 27.02.2003, dass das vor wenigen Wochen eröffnete Gemeindezentrum ab dem 17. Juni, dem 50. Jahresstag des Arbeiteraufstandes von 1953, den Namen "Paul-Othma-Haus" trägt. [11]
Die Ausstellung "Volksaufstand - Der 17. Juni 1953 in Bitterfeld-Wolfen" vom 14.06. - 15.12.2003 im Metall-Labor der P-D ChemiePark Bitterfeld Wolfen GmbH wird von vielen Veranstaltungen und Tagungen begleitet. Die Tagung "Paul Othma — Erinnern an den mutigen Streikführer des Bitterfelder Aufstandes vom 17. Juni 1953" vom 16. - 17.05.2003, veranstaltet von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt und dem Verein "Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.", endet mit der Enthüllung einer Gedenktafel am Bitterfelder Rathaus.
Bild 1. Gedenktafel am Bitterfelder Rathaus, eingeweiht am 17.05.2003. | |
Bild 2. Gedenktafel am Bitterfelder Rathaus | |
Bild 3. Wilhelm Fiebelkorn (Sprecher des Streikkomitees am 17. Juni 1953 in Bitterfeld) und Hedwig Othma (Ehefrau des Streikführers Paul Othma) neben der Gedenktafel am Bitterfelder Rathaus. |
Eine Gedenkfeier mit Kranzniederlegung findet am 17. Juni 2003 auf dem Sandersdorfer Friedhof statt. Anschließend wird feierlich das Gemeindezentrum in "Paul Othma Haus" benannt.
Bild 4. Gemeindezentrum Sandersdorf eröffnet am 05.02.2003. | |
Bild 5. Feierlich wird das Gemeindezentrum Sandersdorf am 17. Juni 2003 in "Paul Othma Haus" benannt. | |
Bild 6. Bürgermeister Wolfgang Thiel (CDU) (rechts). Wilhelm Fiebelkorn (links), Sprecher des Streikkomitees am 17. Juni 1953 in Bitterfeld, erinnert anlässlich der feierlichen Namensgebung an den Volksaufstand und an den Streikführer Paul Othma. | |
Bild 7. Teilnehmer an der feierlichen Namensgebung. |
[1] | Heidemarie Schmidt, Paul Werner
Wagner:...man muß doch mal zu seinem Recht
kommen..." Paul Othma - Streikführer am 17. Juni 1953 in Bitterfeld, Reihe Sachbeiträge, Teil 17. Herausgeber: Die Landesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Magdeburg, Juni 2001. |
[2] | Olaf Freier: Der Juni-Aufstand 1953 im
Industrierevier Bitterfeld-Wolfen.
(1995) www.paper.olaf-freier.de/btf.htm |
[3] | Rainer Hildebrandt: Der 17. Juni. Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes, sowie ergänzende dokumentarische Materialien mit 82 Fotos. Verlag am Haus Checkpoint Charlie, Berlin 1983. |
[4] | Wilhelm Fiebelkorn: Kurzfassung des Ablaufs der Vorgänge am 17. Juni 1953, Stadtarchiv Bitterfeld, Reg. 4233 |
[5] | Kurzfassung des Ablaufs der Vorgänge am 17. Juni 1953, Stadtarchiv Bitterfeld, Reg. 4233 |
[6] | "Fortschritt" Betriebszeitung VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld, Sondernummer 1953 Verantwortl.: Parteileitung der SED des EKB Stadtarchiv Bitterfeld |
[7] | "Fortschritt" Betriebszeitung VEB Elektrochemisches Kombinat Bitterfeld, Nr.35, 24. Nov. 1953 Verantwortl.: Parteileitung der SED des EKB Stadtarchiv Bitterfeld |
[8] | Mitteldeutscher Rundfunk: Tag X - 17. Juni 1953. mdr 01.07.2002 | 09:41 |
[9] | Aufzeichnungen und Schriftstücke im Nachlass Richard Leiter |
[10] | Die kriminelle Herrschaftssicherung des
kommunistischen Regimes der Deutschen Demokratischen
Republik. 3. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung 16. bis 17. Juni 1992 http://library.fes.de/library/netzquelle/ddr/regime/pdf/kriminell.pdf. |
[11] | Mitteldeutsche Zeitung - Bitterfelder Zeitung 01.03.2003 S.11 |
[12] | Nachlass Paul Othma bei Hedwig Othma und Horst Barschdorf in Sandersdorf |
Bilder | Bilder 1 bis 7: Klaus Peter Synnatzschke |
"Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleichberechtigt.
Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze.
Wer wegen Begehung dieser Verbrechen bestraft ist, kann weder im öffentlichen Dienst noch in leitenden Stellen im wirtschaftlichen und kulturellen Leben tätig sein. Er verliert das Recht, zu wählen und gewählt zu werden."
Besonders verhängnisvoll wirkte sich die in Artikel 6 der
Verfassung niedergelegte Generalklausel auf die
Strafrechtsprechung der DDR aus.
Danach wurden "Boykotthetze gegen demokratische
Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen
demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen- und
Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und
alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die
Gleichberechtigung richten", pauschal zu Verbrechen im Sinne
des Strafgesetzbuches erklärt. [10, Page 23]
Diese Generalklausel ermöglichte es, bei abweichender Gesinnung
ein Verbrechen zu stilisieren, wenn dies den
parteitaktischen Kalkülen und Machtzwecken der SED nützlich
war. [10, Page 5]
Die exzessive Handhabung dieser diffusen Generalklausel, der
alle Wesensmerkmale eines Strafgesetzes fehlten -
schließlich enthielt sie weder eine Tatbestandsdefinition
noch eine Strafdrohung -, bezahlten Zehntausende politisch
Verurteilter mit vielen Jahren ihres Lebens hinter
Gittern.
Dutzende politischer Todesurteile beruhten
ebenfalls auf Artikel 6. [10, Page 23]
Die offizielle Bewertung des Aufstandes vom 17. Juni 1953 als faschistischen Putsch, machte die Anwendung dieses Artikels durch die Strafverfolgungsorgane quasi zwingend notwendig.
Dieses Vorgehen sollte augenscheinlich durch die Anwendung interalliierter Rechtsnormen legitimiert werden, denn die Angeklagten wurden parallel des Zutreffens des Abschnitts II Artikel III Absatz A Ziffer III der Direktive Nr. 38 des alliierten Kontrollrats in Deutschland vom 31. Oktober 1946 für schuldig befunden. [2]
"III. Aktivist ist auch, wer nach dem 8. Mai 1945 durch Propaganda für den Nationalsozialismus oder Militarismus oder durch Erfindung und Verbreitung tendenziöser Gerüchte den Frieden des deutschen Volkes oder den Frieden der Welt gefährdet hat oder möglicherweise noch gefährdet."
Artikel VII
Sühnemaßnahmen
Nach dem Grade der Verantwortlichkeit sind die Sühnemaßnahmen (Artikel VIII bis XI) in gerechter und billiger Weise zu verhängen, um die Ausschaltung des Nationalsozialismus und Militarismus aus dem Leben des deutschen Volkes und die Wiedergutmachung des verursachten Schadens zu erzielen.
Artikel IX
1. Sie können auf die Dauer bis zu 10 Jahren in einem Gefängnis oder in einem Lager interniert werden, um Wiedergutmachung und Wiederaufbauarbeiten zu verrichten. Internierung aus politischen Gründen nach dem 8. Mai 1945 kann angerechnet werden. 2. Ihr Vermögen kann als Beitrag zur Wiedergutmachung ganz oder teilweise eingezogen werden. Bei teilweiser Einziehung des Vermögens sind insbesondere die Sachwerte einzuziehen. Die notwendigen Gebrauchsgegenstände sind ihnen zu belassen. 3. Sie dürfen kein öffentliches Amt einschließlich Notariat und Anwaltschaft bekleiden. 4. Sie verlieren alle Rechtsansprüche auf eine aus öffentlichen Mitteln zahlbare Pension oder Zuwendung. 5. Sie verlieren das aktive und passive Wahlrecht, das Recht, sich irgendwie politisch zu betätigen oder Mitglied einer politischen Partei zu sein. 6. Sie dürfen weder Mitglieder einer Gewerkschaft noch einer wirtschaftlichen oder beruflichen Vereinigung sein. 7. Es ist ihnen auf die Dauer von mindestens fünf Jahren nach ihrer Freilassung untersagt: a) In einem freien Beruf oder selbstständig in irgendeinem gewerblichen Betriebe tätig zu sein, sich an einem solchen zu beteiligen oder dessen Aufsicht oder Kontrolle auszuüben. b) In nicht selbstständiger Stellung anders als in gewöhnlicher Arbeit beschäftigt zu sein. c) Als Lehrer, Prediger, Redakteur, Schriftsteller oder Rundfunk-Kommentator beschäftigt zu sein. 8. Sie unterliegen Wohnraum- und Aufenthaltsbeschränkungen. 9. Sie verlieren alle ihnen erteilten Approbationen, Konzessionen und Vorrechte sowie das Recht, ein Kraftfahrzeug zu halten. 10. Nach Ermessen der Zonenbefehlshaber können in die Zonengesetze Sühnemaßnahmen aufgenommen werden, die es den Belasteten untersagen, eine Zone ohne Genehmigung zu verlassen.
Als Grundlage zur Bestrafung "politischer Verbrechen" dienten
auch die bis 1955 in der DDR gültigen Rechtsnormen aus der
Besatzungszeit.
Für die politische Strafjustiz besonders
oft herangezogen wurde die Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom
12. Oktober 1946, die ursprünglich erlassen worden war, um
Richtlinien für die Entnazifizierung vorzugeben. Sie eignete
sich aufgrund eines Satzes, der Propaganda für den
Nationalsozialismus, für Militarismus und die Verbreitung
von Gerüchten als friedensgefährdend hinstellte, jedoch auch
für das Vorgehen gegen politische Gegner.
Gemäß der SED-Interpretation des Charakters des Aufstandes am 17. Juni
1953 eignete sich diese Rechtsnorm zur Anwendung gegen
Streikaktivisten durch die Strafverfolgungsorgane der DDR.
[2]
Letzte Änderung: 25. April 2005
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